Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zum Tag der Deutschen Einheit 2016 in Dresden

Es gilt das gesprochene Wort

Herr Bundesratspräsident, lieber gastgebender Ministerpräsident Tillich,
sehr geehrter Herr Bundespräsident, Frau Bundeskanzlerin,
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts
Exzellenzen, hohe Repräsentanten der Kirchen und der Religionsgemeinschaften, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Europäischen Parlament, dem Deutschen Bundestag, den Landtagen, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren, liebe Gäste!
Man muss es nicht mehr aufregend finden, dass wir – mehr als ein Vierteljahrhundert nach Wieder herstellung der
staatlichen Einheit Deutschlands – unseren National feiertag schon zum zweiten Mal hier in Dresden feiern. Aber freuen
dürfen wir uns durchaus darüber, dass selbstverständlich geworden ist, was über Jahrzehnte völlig ausgeschlossen schien:
Einheit in Freiheit.
Man darf sogar dagegen sein. Aber diejenigen, die heute am lautesten schreien und pfeifen und ihre erstaunliche
Empörung kostenlos zu Markte tragen, haben offensichtlich das geringste Erinnerungsvermögen daran, in welcher
Verfassung diese Stadt und dieses Land sich befunden haben, bevor die Deutsche Einheit verwirklicht werden konnte.
Mein besonderer Respekt gilt all den Menschen in Dresden, Sachsen und Thüringen, Sachsen Anhalt und Brandenburg,
MecklenburgVorpommern und Berlin, die wissen, was sie selbst in diesen Jahren geleistet und nicht vergessen haben,
welche Unterstützung sie dabei von anderen erhalten haben.
Die erste Dresdner Einheitsfeier 2000 hat eine große deutsche Zeitung unter der Überschrift „Bratwurst und Barock“ als
Veranstaltung beschrieben, bei der „den Deutschen an diesem zehnten Jahrestag der wiedererlangten Einheit das fröhliche
Feiern nicht so recht gelingen will“. Seitdem ist manches anders geworden – in diese wie in jene Richtung. Rundum fröhlich
ist Dresden auch in diesem Jahr nicht – und Deutschland auch nicht.
Das Jahr 2016 macht Zusammenhänge, aber auch Spannungen deutlich, mit denen Europa und seine Nachbarn im 21.
Jahrhundert zu tun haben:
In Großbritannien haben die Wähler in einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit beschlossen, aus der Europäischen
Union auszutreten. Die junge Generation, die von dieser Entscheidung am längsten betroffen sein wird, hat daran am
wenigsten teilgenommen und damit die Mehrheit gegen die eigenen Interessen erst ermöglicht.
In der Türkei haben Teile der Armee die demokratisch gewählte Regierung durch einen Putsch gewaltsam stürzen wollen,
und sind am Widerstand der Bevölkerung gescheitert, die nun die bittere Erfahrung macht, dass die Verfassungsordnung
nicht nur von Militärs herausgefordert wird.
In Syrien und den angrenzenden Regionen erleben die Menschen nun schon im fünften aufeinanderfolgenden Jahr die
gnadenlose Anwendung brutaler militärischer Gewalt, die Hunderttausenden das Leben gekostet und Millionen aus ihren
zerstörten Heimatorten vertrieben hat. In Aleppo ist an diesem Wochenende das letzte noch funktionstüchtige Krankenhaus
bombardiert worden.
Auch an der östlichen Grenze Europas dauern die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der
Ukraine ebenso an wie die völkerrechtswidrige Annexion der Krim.
Allein diese Konflikte zeigen deutlich, dass die europäische Friedensordnung, wie sie in der Charta von Paris im Jahr 1990
von den europäischen Mitgliedsstaaten der KSZE, den USA, Kanada, der Sowjetunion und der Türkei feierlich bekräftigt
wurde, weder selbstverständlich war, noch ein für allemal gesichert ist.
Die Unterzeichner bekundeten damals ausdrücklich die Aner- kennung nationaler Selbstbestimmung, die Nichteinmischung
in innere Angelegenheiten und die Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen. Es war ein Glücksversprechen – und es
richtete sich an einen historisch zerstrittenen Kontinent, der wie unser Land lange geteilt war und dem – wie Deutschland
auch – Einheit und Demokratie nun dauerhaft beschieden sein sollten.
Der Triumph der Demokratie in ganz Europa war nicht „das Ende der Geschichte“, wie kluge Beobachter voreilig verkündeten. Die Geschichte war offen – und das ist sie auch heute. Wir Deutsche haben damals eine neue Chance bekommen und wir haben sie genutzt mit kräftiger Unterstützung unserer Nachbarn und Freunde. Wir haben Brücken gebaut, im Innern und nach Außen. Sie alle haben das Land gestaltet im Bewusstsein unserer besonderen deutschen Geschichte.
Meine Damen und Herren,
vor 100 Jahren, im Dezember 1916, mitten im ersten Weltkrieg, erhielt das Eingangsportal unseres Parlaments in Berlin als
Widmung die markante Inschrift: „Dem deutschen Volke“, das Reichstagsgebäude selbst war damals bereits 22 Jahre alt.
Die Festlegung auf eine Inschrift war im Kaiserreich ebenso umstritten wie die Volksvertretung selbst. Dem Kaiser, dem das
Parlament ebenso entbehrlich schien wie das dafür errichtete Reichstagsgebäude, wurden die Worte „Dem deutschen
Reich“ vorgeschlagen, Wilhelm II. plädierte für den Schriftzug „Der deutschen Einigkeit“ – er misstraute dem Parlament als
einem Ort widerstreitender Meinungen und Interessen und beschwor die nationale Geschlossenheit.
Alles nur Geschichte? Die vor einhundert Jahren beschlossene Widmung „Dem deutschen Volke“, die dem im Kriegsverlauf
zunächst gewachsenen Selbstvertrauen der meisten damaligen Parlamentarier entsprach, konnte unmittelbar vor
Weihnachten 1916 montiert werden. Es war das Jahr brutaler deutschfranzösischer Schlachten um Verdun und an der
Somme, an deren Ende es ohne wesentliche Verschiebung des Frontverlaufs und damit ohne Geländegewinne auf beiden
Seiten mehr als hunderttausend Tote gab. Die Lettern der Widmung waren aus eingeschmolzenen französischen Kanonen kugeln gegossen – erbeutet in den Befreiungs kriegen gegen Napoleon.
Die damit beauftragte Bronzegießerei Loewy gehörte einer jüdischdeutschen Familie, deren Sohn sich vom Judentum
abgewandt hatte. Er ließ sich taufen, und nachdem er sich 1918 hatte adoptieren lassen, glaubte er sich mit seinem neuen
Namen Erich Gloeden sicher – zu sicher. Von den National sozialisten wurde er verhaftet, weil er Verfolgten geholfen hatte –
darunter auch einem General aus dem Widerstand des 20. Juli. Gloedens Frau, seine Schwiegermutter und er selbst
wurden im November 1944 in Plötzensee durch das Fallbeil getötet.
Geschichte. Die Nationalgeschichte jedes Landes ist die Summe der vielen, persönlichen Geschichten von Menschen, die
meist unbeobachtet bleiben oder schnell vergessen werden. Geschichten wie die Erich Gloedens zählen zu unserem
historischen Erbe. Seine Geschichte zeigt beispielhaft, wie in unserem Land noch vor wenigen Generationen Menschen
ausgeschlossen wurden aus der Nation, deren selbstverständliche Mitglieder sie waren, wie sie Rechte und Schutz
verloren, ausgeliefert waren – in einer Zeit, da die Weimarer Republik zerschlagen, der Reichstag ausgebrannt, das
Parlament entmachtet und politische Gegner an Leib und Leben bedroht waren.
Diese Erfahrungen sind uns Verpflichtung und sie lassen uns gerade am Nationalfeiertag auch darüber nachdenken, wie
und was sich in den vergangenen einhundert Jahren verändert, glücklich gewandelt hat, wer und was deutsch ist und
wen Deutschland heute in seine Rechtsordnung einschließt – für wen die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages unter der Widmung „Dem deutschen Volke“ Gesetze debattieren und beschließen.
Angesichts vieler Veränderungen, der objektiven Schwierigkeiten und der bisweilen auch zu Unrecht aufgetürmten scheinbaren Probleme, die uns heute beschäftigen, steht außer Frage, dass „dem deutschen Volke“ selbst aufgegeben ist,
nach einer zeitgemäßen Bestimmung dessen zu suchen, was Deutschland im 21. Jahrhundert sein will. Das wissen wir
gegenwärtig offensichtlich nicht so genau. Darüber darf und muss gestritten werden. Wer aber in diesem Streit das Abendland gegen tatsächliche und vermeintliche Bedrohungen verteidigen will, muss seinerseits in dieser Auseinandersetzung den Mindestansprüchen der westlichen Zivilisation genügen: Respekt und Toleranz üben und die Freiheit der Meinung, der Rede, der Religion wahren und den Rechtsstaat achten.
Deutschland ist heute anders als vor einhundert Jahren – glücklicherweise und anders auch als vor 26 Jahren.
Deutschland verändert sich, weil sich nicht nur die Welt und unsere Nachbarschaft verändert, sondern auch das Volk in
Deutschland. Die unterschiedlichen Lebensgeschichten erzählen, wer wir sind und woher wir kommen, was uns prägt und
was wir von den hier geltenden Werten und Regeln erwarten, die im Übrigen dazu dienen, dass alle in Deutschland
lebenden Menschen hier ihr Lebensglück suchen können und hoffentlich auch finden. Und wo immer gewohnte
Verhaltensmuster von Zuwanderern mit hier geltenden Gesetzen kollidieren, gelten selbstverständlich die hiesigen Regeln.
Für alle. Ausnahmslos.
Aus einem Brief zum scheinbar immer wiederkehrenden Thema Flucht und Vertreibung:
„Unser Boot ist hoffnungslos überladen. Der Korb schwebt schon über dem Meer, als ich den Arm des Mannes zurückreiße.
Ich hebe meine Tochter heraus und wickele sie mir vor die Brust. Sie ist erst zwei Tage alt. Ich habe sie noch in der
Hafenstadt geboren, am nächsten Tag ging es auf diesen Kahn. Sie schreit kaum. (…) Ich selbst spüre nichts. Die
Erleichterung kommt erst später, als wir in den Baracken der Notunterkunft sitzen. Wir sind davongekommen, mit unserem
Leben. Angekommen sind wir noch lange nicht.” Davongekommen. Angekommen. Das klingt in unseren Ohren wie das Schicksal eines Flüchtlings aus dem Nahen Osten. Es ist aber die Geschichte einer jungen Frau, die 1945 mit ihrer Familie
aus Königsberg floh.
Auch in diesem Jahr sind wir immer wieder mit Ereignissen, Bildern und Berichten konfrontiert, die wir uns im 21.
Jahrhundert nicht mehr vorstellen wollten.
„Eine Viertelstunde, nachdem wir abgelegt hatten, fiel der Motor unseres Bootes aus. Alle fingen an zu schreien. (…). Meine
Schwester sprang ins Wasser und fing an, das Boot zu ziehen. Nach einer Weile sprang ich hinterher. In dem Moment
konnte ich nicht denken, ich sah nur mein Leben an mir vorbeiziehen.“
Auch diese junge Frau ist über das Wasser geflüchtet. Yusra Mardini, geboren in Syrien, lebt seit etwas mehr als einem Jahr
mit ihrer Familie in Deutschland. Im Sommer nahm die 18Jährige
an den Olympischen Spielen in Brasilien teil. Die
Schwimmerin startete in der Mannschaft der Flüchtlinge. „Manchmal eröffnet einem das Leben Möglichkeiten, wenn man sie am wenigsten erwartet“, sagt sie.
Dieser Staat, dessen Einheit wir heute feiern, unsere Gesellschaft, kann und will Möglichkeiten eröffnen, ein Leben in Frieden und Freiheit zu führen: „Dem deutschen Volke“, Hiergeborenen und Zugewanderten, Jungen und Alten, Frauen und
Männern, Christen, Muslimen und Juden, Armen und Reichen. Vielfalt ist keine Worthülse – längst wohnen hier in Sachsen
gebürtige Schwaben, aber auch Tschechen und Polen, haben Brandenburgerinnen Bremer mit türkischen Wurzeln geheiratet, sind einst aus der DDR freigekaufte Berliner vom Rhein zurück an die Spree gezogen, Westfalen haben in Mecklenburg Vorpommern
ihr Glück gemacht, Niedersachsen in Thüringen – als Ministerpräsidenten zum Beispiel. Und ein
Dresdner Schauspieler beeindruckt seit Jahren ein millionenstarkes Fernsehpublikum im „MünsterTatort“.
Deutschland ist ein vitales Land, ein attraktiver Standort, eine vielfältige, bunte Gesellschaft, durch Persönlichkeiten geprägt,
die Tradition wie Innovation überzeugend verkörpern:
Ein in Bangkok geborener Oberstleutnant leitet die Big Band der Bundeswehr, eine Chinesin wurde Vizepräsidentin einer
bayerischen Universität, eine Syrerin ist in diesem Jahr Weinkönigin in Trier, ein türkischstämmiger Muslim war
Schützenkönig einer katholischen Schützenbruderschaft in Werl/Westfalen, und eine Fernsehmoderatorin, deren Familie
aus dem Irak stammt, verteidigt die Freiheit sowie die Rechte und Pflichten der Presse in Deutschland gegen demokratie gefährdende Anwürfe. Deutsche Fußball, Olympia und
Paralympics Mannschaften sind erfolgreich, auch deshalb, weil
ihre Mitglieder mit ihren Mannschaftskameraden mit welcher Herkunft und Hautfarbe auch immer, gemeinsame Ziele
verfolgen und zusammen kämpfen. Unter einer Flagge.
Wir sind heute in der glücklichen Lage, die Einheit, die wir heute feiern, gestalten zu können – anders als die Deutschen
über Jahrhunderte ihrer Geschichte. Der Wunsch nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“ war lange eine wirklichkeitsfremde
Vorstellung, so zum ersten Mal formuliert 1841, vor 175 Jahren, geträumt auf einer Insel, im Wind auf der Klippe. Die Insel
war Helgoland und gehörte damals nicht zu Deutschland, das es als Nationalstaat noch nicht gab, sondern zum Britischen
Königreich.
Der Träumer war Hoffmann von Fallersleben, dessen Sehnsucht nach nationaler Einheit und Freiheitsrechten sein „Lied der
Deutschen“ zum Ausdruck brachte. Im Jahr darauf wurde der Professor für deutsche Sprache aus dem Lehramt an der
Universität Breslau entlassen – seiner politischen Gedichte wegen. Das damalige Recht war nicht auf seiner Seite. Die Einheit war damals noch weit entfernt, die Freiheit war jedenfalls sehr entwicklungsfähig.
In der Geschichte des „Deutschlandlieds“ spiegeln sich die Turbulenzen der deutschen Geschichte wie in der Inschrift des
Reichstags. Nationalistischaggressiv intonierten Soldaten die erste Strophe eben dieses Liedes im Ersten Weltkrieg:
„Deutschland, Deutschland über alles“. In diabolischer Einfalt übernahm die nationalsozialistische Führerriege diese erste
Strophe sinnwidrig in ihren Propagandafeldzug gegen das eigene und später gegen die anderen Völker. Und es war nur
folgerichtig, dass das gleiche Regime die zweite und dritte Strophe verbot. Da war von Recht und Freiheit längst nicht mehr
die Rede – und die Einheit des Landes überstand der folgende Krieg auch nicht.
Heute genießen wir wie selbstverständlich Rechte, die Hoffmann von Fallersleben und seinen Zeitgenossen verwehrt
waren. Wir leben in staatlicher Einheit, in Recht und Freiheit. Wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn. Deutschland ist
ein demokratischer Staat. Sicher nicht perfekt, aber gewiss in besserer Verfassung als jemals zuvor. Das Paradies auf Erden
ist hier nicht. Aber viele Menschen, die es verzweifelt suchen, vermuten es nirgendwo häufiger als in Deutschland. Wenn
das so ist, haben wir eine doppelte Legitimation, darauf zu bestehen, dass dieses Land in seinen Grundorientierungen so
bleibt, wie es ist.
Nach einer Anfang dieses Jahres beim Weltwirtschaftsforum in Davos vorgestellten Umfrage unter 16.000 Menschen aus
aller Welt, Meinungsführern in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung, gilt Deutschland mit Blick auf politische Stabilität,
wirtschaftliche Prosperität, soziale Sicherheit, Bildung, Wissenschaft und Infrastruktur als „bestes Land“ auf dieser Erde.
Das ist vielleicht doch übertrieben. Aber offensichtlich ist: Vieles ist uns gelungen, manches offenbar besser als anderen;
doch im Vergleich mit anderen Ländern zeichnen wir uns gerade nicht durch ausgeprägte Zufriedenheit aus. In einem
virtuellen Glücksatlas des amerikanischen GallupInstituts,
das die gefühlten Erfahrungen unter 138 befragten Nationen
erfasst, ordnen die Deutschen sich auf Rang 46 ein – zwischen dem Senegal und Kenia. Nach einer neuen Umfrage haben
wir uns weiter nach oben gearbeitet, direkt hinter Vietnam. Man muss das nicht für die sprichwörtliche deutsche
Bescheidenheit halten.
Wir können und dürfen durchaus etwas mehr Selbstbewusstsein und Optimismus zeigen. Arthur Schopenhauer, in Danzig
geboren, in Frankfurt/Main gestorben, der weder die erste deutsche Einheit 1871 erlebt hat noch die zweite 1990, aber in
vielen deutschen und europäischen Städten gelebt und Erfahrungen gesammelt hat, darunter auch Dresden, hat eine
Beobachtung formuliert, die auch heute noch aktuell scheint: „Ein eigentümlicher Fehler der Deutschen ist, dass sie, was vor
ihren Füßen liegt, in den Wolken suchen“. In dieser gesamtdeutschen Begabung sind „Ossis und Wessis“ längst ein Herz und eine Seele.
Wir leben in Verhältnissen, um die uns fast die ganze Welt beneidet. Und wir stehen auch deshalb vor
Herausforderungen, die wir bewältigen müssen und können, wenn wir es wollen.
Die Deutsche Einheit fordert uns alle, die Zufriedenen wie die Unzufriedenen, aber gerade am heutigen Tag dürfen wir uns
außer der Wahrnehmung der Rückschläge, Hemmnisse und Zukunfts ängste durchaus auch Zufriedenheit erlauben, wenn
nicht gar ein Glücksgefühl. Wir sind ein Volk und wir leben jetzt so zusammen, wie es ganze Generationen vor uns nur
träumen konnten: In Einigkeit und Recht und Freiheit.
Das sind gleich drei gute Gründe zum Feiern. Mindestens drei. In diesem Sinne wünsche ich uns allen, hier in Dresden und
überall im Lande einen friedlichen und fröhlichen Nationalfeiertag.

Quelle: http://www.bundestag.de/bundestag/praesidium/reden/2016/004/442962

Aufruf zu einer Leit- und Rahmenkultur. Gemeinsames Papier der Sächsischen Union und der CSU

Die Herausforderung: In Zeiten gesellschaftlicher Unruhe wird wichtig, was Halt und Orientierung gibt. Die gegenwärtige Krisenpermanenz verleitet Europas Staaten dazu, sich gemeinsamen Lösungen zu entziehen und auf nationale Interessen zu konzentrieren. Der umgekehrte Weg wäre besser: Aufbau starker nationaler und regionaler Identitäten – um sich dann mit breitem Rückhalt der gemeinsamen Bewältigung internationaler und globaler Aufgaben zu widmen.
Kraftquelle: Heimat und Patriotismus Gemeinsame Heimat bildet sich, wo alle dazugehören und gemeinsam am Fortschritt teilhaben. Beheimatung ist aber kein Zustand, sondern ein Vorgang, in dem Neues und Fremdes ins Bestehende integriert wird. Solches Heimischwerden gelingt besser, wenn es gefördert wird. Also brauchen wir eine wirkungsvolle Integrationspolitik, die Fliehkräften entgegenwirkt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt. Gelingt es dann, Beheimatung und Weltoffenheit miteinander zu verbinden, so führt das zu Wohlfahrt und Erfolg. Und patriotisch ist, wer sein Land und dessen Leute mag, zu einer guten gemeinsamen Zukunft und zum Gemeinwohl beiträgt und sich für die freiheitliche demokratische Grundordnung einsetzt.
Nicht unwichtig dafür sind die Symbole unseres Landes. Sie stellen uns alle unabhängig von unserer Herkunft in eine gemeinsame, gute Geschichte. Vor allem tut das die schwarz-rot-goldene Fahne mit ihrer freiheitlichen Tradition, ebenso die Hymne mit ihrem Aufruf zu Einigkeit und Recht und Freiheit als Voraussetzungen gemeinsamen Glücks. Großes gelang Deutschland gerade unter diesen Zeichen. Das zeitigt Dankbarkeit und Freude, aus denen Stolz auf unsere Nation erwächst.
Natürlich braucht auch Europa solche Symbole, die das Verbindende ausdrücken, vor allem das Zusammenwirken von Antike, Christentum und Aufklärung mitsamt Europas „Einheit in Vielfalt“.
Kraftquelle: Leitkultur Es braucht eine verbindende Rahmenkultur. Leitkultur genannt, meint sie nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern das Fundament unseres Zusammenlebens. Dass es hier sicherer und friedlicher, freiheitlicher und gerechter, ja auch wohlhabender zugeht als in vielen anderen Teilen der Welt, zieht viele zu uns.
Diese Leitkultur umfasst neben der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auch jene kulturellen Errungenschaften, denen unsere Verfassungsordnung überhaupt erst ihre Plausibilität verdankt. Dazu gehören die Trennung von Staat und Religion, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Wert-schätzung des Strebens nach selbstdefiniertem Lebensglück, der dauernde, verantwortungsvolle Umgang mit persönlicher Freiheit. Das alles stiftet jenes Vertrauen, in dem eine gelebte Verfassung wurzelt.
Doch eine Leitkultur umschließt nicht nur Werte und Rechtsnormen. Zu ihr gehören auch Übereinkünfte, die von der Regelung des Alltagslebens bis zur Ausgestaltung der Rolle Deutschlands in Europa und der Welt reichen. Sie beginnen mit dem selbstverständlichen Gebrauch der deutschen Sprache sowie bewährter Umgangsformen, und sie umschließen jene wichtigen Lehren, die unser Land aus der nationalsozialistischen und der kommunistischen Diktatur gezogen hat. Zu diesen gehören die Wertschätzung von Solidarität und Freiheit, die bereitwillige Übernahme von Verantwortung, gegenseitiger Respekt und der Verzicht auf politische Gleichgültigkeit. Das alles sind sehr konkrete Wege für Zuwanderer, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Wir erwarten, dass diese Wege auch beschritten werden.
Ziele: Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit Gerechtigkeitsempfinden wird verletzt, wenn Solidarität überbeansprucht wird. Auch humanitär begründete Zuwanderung darf nicht die Belastbarkeitsgrenzen der Bevölkerung Deutschlands überschreiten oder den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gefährden. Deshalb brauchen wir eine Einwanderungspolitik, die sich nach Nachhaltigkeit, plausibler Gerechtigkeit und den Bedürfnissen unseres Landes bemisst. Funktionierende Staatlichkeit mit der Achtung vor Recht und Gesetz und eine starke Wirtschaft sind wichtige Voraussetzungen gelingender Integration.
Worauf es ankommt
1. Deutsch als Sprache des öffentlichen Lebens: Ohne gemeinsame Landessprache in Öffentlichkeit und Alltag ist gedeihliches Zusammenleben nicht möglich.
2. Recht und Gesetz: Gesellschaftliche Vielfalt bleibt nur dann friedlich, wenn alle bereitwillig dieselben Gesetze einhalten. Deshalb erwarten wir fraglose Akzeptanz unserer Verfassungsordnung, verlässliche Rechtstreue und die Bereitschaft, die Risiken von Freiheit mitzutragen. Unverhandelbar sind die Gleichberechtigung von Frau und Mann, die sexuelle Selbstbestimmung und der Respekt vor dem Eigentum anderer. Rechtsetzung, Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung bleiben ausschließlich staatliche Aufgaben.
3. Abendländisches Wertefundament: Jüdisch-christliche Werte sind in der Tradition der Aufklärung Grundlage unseres Zusammenlebens. Die Würde jedes Menschen, seine Einzigartigkeit, sein Recht auf staatliche Gleichbehandlung sowie seine Berufung zur freien, selbstbestimmten Ausgestaltung des eigenen Lebens sind Ecksteine unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
4. Religionsfreiheit und ihre Grenzen: Gerade die Trennung von Religion und Staat ermöglicht Religionsfreiheit. Religiöse Praxis findet deshalb ihre Grenzen in den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Mehr als das schreibt der Staat den Religionen nicht vor. Umgekehrt darf Handeln gemäß religiöser Überzeugungen nirgendwo die Erfüllung staatlicher Aufgaben ersetzen. Das gilt gerade auch für das Bildungs- und Erziehungswesen.
5. Kultur und Tradition: Ohne gemeinsame Selbstverständlichkeiten zerfällt eine Gesellschaft. Deutschland hat deshalb ein Recht zur Festlegung dessen, was weiterhin als selbstverständlich gelten soll. Natürlich können sich Selbstverständlichkeiten auch wandeln, und darauf hinzuwirken ist – im Rahmen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung – das Recht jedes Bürgers.
6. Alltägliche Umgangsformen: Vertraute Umgangsformen strukturieren unser Miteinander. Zu ihnen gehören Offenheit und wechselseitiger Respekt.
7. Solidarisches Zusammenleben: Nur solange ein Land als bereitwillige Solidargemeinschaft funktioniert, sind soziale und innere Sicherheit gewährleistet. Deshalb dürfen wir die wechsel-seitigen Solidaritätserwartungen nicht überziehen. Vor allem muss jeder nach Kräften selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen. Besondere Anerkennung verdienen jene, die sich ehrenamtlich einbringen.
8. Geschichtliches Bewusstsein: Wir sind stolz auf unsere Kultur und Geschichte und haben aus den beiden deutschen Diktaturen und dem Holocaust wegweisende Lehren gezogen. Im Wunsch nach Frieden und guter Nachbarschaft gegründet, stehen wir für die Selbstbehauptung der Europäer durch enge Zusammenarbeit in der Europäischen Union und nehmen dabei unsere internationale Verantwortung wahr. Die Sicherung der Existenz Israels ist uns ein wichtiges Anliegen.
9. Politische Interessen: Wir setzen uns ein für die Interessen unserer Bundesländer in einem lebendigen Föderalismus, für die Interessen Deutschlands als starkem Mitglied der westlichen
Wertegemeinschaft und für das Ziel einer handlungsfähigen Europäischen Union. Die Austragung von Stellvertreterkriegen in Deutschland lassen wir nicht zu.
10. Toleranz: Es kann in einer offenen Gesellschaft sehr herausfordernd sein, mit anderen Meinungen, Überzeugungen, politischen Einstellungen und Lebensentwürfen zurechtzukommen. Toleranz als Hinnehmen von Beliebigem hilft dabei nicht nachhaltig. Sie muss vielmehr an unserer bewährten Leit- und Rahmenkultur orientiert sein.
Die gemeinsame Verwurzelung in liebgewonnener Heimat, gelebter Patriotismus, gesicherte Freiheit und Demokratie sowie die Aufrechterhaltung der Solidargemeinschaft der Nation bieten Schutz in einer globalisierten Welt und halten auch in schwierigen Zeiten Staat und Gesellschaft stabil. Wir treten deshalb für eine Leitkultur ein, die alles das ermöglicht. Sie ist Grundlage unseres Handelns für ein gutes Deutschland. Mögen sich viele uns dabei anschließen!

Johannes Singhammer MdB, Vizepräsident des Deutschen Bundestages

Reinhold Bocklet MdL, Vizepräsident des Bayerischen Landtages

Markus Blume MdL, Vorsitzender der CSU-Grundsatzkommission

Dr. Matthias Rößler MdL, Präsident des Sächsischen Landtages

Michael Kretschmer MdB, Generalsekretär der CDU-Sachsen

Das vorliegende Papier wurde erstellt unter sachverständiger Beratung durch
Dr. Joachim Klose.
Prof. Dr. Werner J. Patzelt und
Prof. Dr. Arnd Uhle.
Berlin, den 30. September 2016