Kommentar von S.-G. Kirmes: “Hans-Joachim Maaz bringt in dem Interview das was in Sachsen und eigentlich grundsätzlich in der ganzen Republik zu Diskussion steht und stehen muss, klar zum Ausdruck. Die Probleme liegen halt tiefer, als es schnelle Schlagzeilen vorspiegeln oder auch eine sich dem Thema tatsächlich nicht stellende Bundespolitik mit der Kanzlerin an der Spitze.”
Der hallesche Psychoanalytiker und Autor Hans-Joachim Maaz über Ursachen und Folgen von Chemnitz
Leipzig. Der hallesche Psychoanalytiker und Autor Hans-Joachim Maaz (75, „Gefühlsstau“) äußert sich im Interview zu den Ereignissen von Chemnitz. Der Experte für die ostdeutsche Seele warnt davor, die Sachsen pauschal zu verurteilen und in die rechte Ecke zu stellen.
Herr Maaz, in Chemnitz haben tödliche Messerstiche auf einen Deutschen dazu geführt, dass eine Stadt emotional aus den Fugen geriet. Die Situation war und ist geprägt von Wut, Hass, Empörung und gegenseitigen Schuldzuweisungen. Hat Sie diese Gefühlsexplosion überrascht?
Nein, überhaupt nicht. Es war wie ein Pulverfass, es hat sich tatsächlich ein „Gefühlsstau“ aufgebaut. Schwierige und ungelöste gesellschaftliche Konflikte durch Migration und deren Folgen haben zu heftigen Affekten auf allen Seiten geführt. Die Tötung eines Menschen war nur der Anlass, um diese schon lange vorhandenen Gefühle ausbrechen zu lassen.
Mit Chemnitz steht auch Sachsen am Pranger als anfälliges Land für rechtes Gedankengut. Was ist los mit Sachsen, warum passiert sowas nicht woanders?
Ich finde es bedenklich, wenn die Vorfälle in Chemnitz jetzt auf die rechtsextreme Schiene geschoben werden. Beginnend mit den Feststellungen von Regierungssprecher Seibert, dass da Hetzjagden und Zusammenrottungen stattgefunden hätten. Nach allem, was wir jetzt wissen, stimmt das ja so gar nicht. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass ein umfassenderes Protestthema schnell in die rechtsextreme Ecke geschoben wird, um es damit ablehnen und diffamieren zu können.
Schwierigkeiten mit dem Flüchtlingsthema gibt es ja vielerorts, nur in Sachsen kocht die Wut darüber so schnell hoch.
In Sachsen gibt es schon seit längerer Zeit verschiedene Proteste wie Pegida oder der Zulauf zur AfD. Für mich heißt das, dass die Kritik an der aktuellen Politik – besonders die Migration, der Umgang mit dem Islam und an der Euro-Politik – sowie die Unzufriedenheit mit den Folgen der Wiedervereinigung nach einer Ausdrucksform sucht. Ich halte besonders die Sachsen und die Ostdeutschen generell für wesentlich kapitalismuskritischer.
Wo kommt das her?
Noch aus DDR-Zeiten, wo das Lebensumfeld ja offiziell davon geprägt war, den Kapitalismus kritisch zu sehen. Da ist was hängen geblieben. Ostdeutsche sind auch kritischer gegenüber Obrigkeiten, da wirken die DDR und die SED nach. Es gab immer eine Skepsis gegenüber Aussagen von oben. Dieses Misstrauen war auch nach 1989 nie wirklich weg und mit der Migrations-Politik ist das wieder voll aufgeflammt.
Rein psychotherapeutisch betrachtet: Müssten die Sachsen alle auf die Couch, wegen emotionaler Überreaktionen bei Protesten mit Tendenz nach rechts?
Es ist genau andersrum. Die Kritiker der Sachsen gehören auf die Couch. Gerade im Westen herrscht überhaupt kein Verständnis gegenüber dem Protest, der aus Sachsen kommt. Ich will diesen Protest auch nicht nur gutheißen, er ist aber notwendig. Wenn man Proteste nur abkanzelt, so nach dem Motto „mit denen rede ich nicht“, macht man einen großen Fehler. Der mögliche Wahrheitsgehalt, der in jedem Protest steckt, wird dann nicht mehr zur Kenntnis genommen.
Wie kommen Sie zu dieser Erkenntnis?
Das sind Erfahrungen aus der sozialen Gruppentherapie. Wenn Menschen zusammen sind, gibt es immer Anführer, Mitläufer und Außenseiter, die Omegas. Und diese Omegas werden immer von den anderen beschimpft, bedrängt oder wenn möglich ausgegrenzt. Und zwar deshalb, weil der Außenseiter immer etwas verkörpert, was die anderen, die Mehrheit nicht wissen will. Die Verleugnung einer schwierigen Wahrheit ist aber für die Entwicklung einer Gruppe wie auch der Gesellschaft hochproblematisch, weil dann bittere Realitäten nicht mehr gesehen werden und damit auch nicht mehr hilfreich angepackt werden können.
Der „Spiegel“ hat auf seinem aktuellen Titel Sachsen unter Nazi-Generalverdacht gestellt. Was löst das bei den Menschen hier emotional aus?
Diese mediale Hetze gegen die Sachsen ist verheerend. Oder andersrum betrachtet: Wollen denn diese Medien wirklich, dass die AfD in Sachsen noch stärker wird? Wer so reagiert, dem muss klar sein, dass er damit neuen Protest und Widerstand auslöst. Viele Menschen fühlen sich falsch eingeschätzt.
Aber Rechtsextremismus ist schon ein Problem in Sachsen.
Es gibt natürlich Rechtsextreme, leider. Aber die sind doch eine klare Minderheit. Die Mehrheit der Sachsen ist in der Mitte, die sich aber zunehmend von den Folgen der Migration bedroht fühlt. Wenn man die Mitte jetzt in die rechte Ecke stellt, sorgt man für mehr Zulauf bei der AfD.
Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) hat gerade von Angela Merkel gefordert, in Chemnitz Gesicht zu zeigen. Hat er recht? Jetzt hat sie eine Einladung der Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig angenommen und will in den nächsten Wochen kommen.
Die Kanzlerin hätte sofort nach Chemnitz fahren müssen. Wenn sie als erstes den Angehörigen des Opfers kondoliert hätte, wären viele Spannungen von vornherein abgebaut worden. Das wäre auch ein wichtiger Schritt zur Einsicht gewesen, dass die Migrationspolitik unter ihrer Regie bisher nicht optimal gelaufen ist.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat zumindest versucht, vor Ort in Chemnitz die Wogen zu glätten. Wie bewerten Sie seine Auftritte?
Durchaus positiv, er hat sich dem Bürgergespräch gestellt. Es ging hoch her, offenbar war das Publikum in Chemnitz nicht ausgewählt. Das finde ich ehrenwert, das ist die richtige Haltung. Dagegen empfand ich den TV-Talk mit Anne Will als sehr unangenehm. Frau Will wollte ihn regelrecht vorführen. Er hat sich dann verteidigt, bis ihm der Kragen geplatzt ist. Das fand ich gut, weil klar wurde, dass man ihm etwas anhängen wollte.
Die Medien – auch die LVZ – stehen als Lügenpresse am Pranger. Wie lässt sich das gestörte Vertrauen wieder herstellen?
Beide Seiten, die jetzt in Chemnitz aufeinanderprallen, sollten abgebildet werden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass hier die Guten und da die Schlechten stehen. Der „Spiegel“ ist gerade ein negatives Beispiel. Auch bei der Berichterstattung zum Beispiel über Ungarn, Polen, Trump und Brexit muss es doch darum gehen, nicht nur über das Schlechte zu berichten, sondern sich auch zu fragen, was ist denn an einer anderen politischen Haltung auch verständlich und richtig. Die andere Seite, die einem eben nicht gefällt, muss man auch zu Wort kommen lassen. Sonst ist der Vorwurf der „Lückenpresse“ nicht von der Hand zu weisen. Interview: André Böhmer
LVZ vom 6.09.2018